Dinge brauchen ihre Zeit.

Ich arbeite oft mit Künstler:innen zusammen, deren Musik reifen muss. Ähnlich wie bei einem guten (meaning: alten), absolut stickendem, aber geilem Käse. So einer, der auf der Zunge zergeht. Einer, zu dem man nicht mal Brot oder Wein braucht. Wo jeder Bissen ein Stückchen mehr des Lebens freigibt, was der Leib zuvor monatelang aufgesaugt hatte.

Wir merken, ich bin Genießerin. Ich merke, dass es mit dem Käse so ist, wie mit der Musikproduktion. Geschmackssache. Deswegen, lass mich kurz meinen ersten Satz umformulieren:
Ich arbeite oft mit Künstler:innen zusammen, die ihrer Musik (oder ganz allgemein Kunst) gerne Zeit zum reifen geben.

Es gibt Dinge, die länger brauchen. Und es gibt Dinge, die einen bestimmten Zeitpunkt brauchen. Dinge brauchen ihre Zeit.
— I did say that...

Manchmal braucht es einen bestimmten Moment oder Zustand, auf den wir im Studio hinarbeiten. Stimmt das Setting? Ist es zu hell/dunkel? Fehlen uns Materialien oder Informationen? Fehlen entsprechende Erfahrungen? Der Trick besteht ja dann darin, sich bewusst Zeit zu geben, aber nix zu erzwingen. Manchmal reichen da schon 15min spazieren gehen, um sich endlich für das passendste Outro entscheiden zu können. Dann gibt es auch Projekte, wo alles wie geschmiert läuft. Da vergehen nur wenige Minuten/Stunden/Tage und wir fallen erschöpft und überglücklich in den Sessel. Dafür brauchen wir im Nachhinein dann 3 Wochen Urlaub, ein neues Hobby und viele Menschen, die nix mit Musik am Hut haben. Ich übertreibe hier ein wenig, aber eigentlich ist das wahr. Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Kunst braucht ihre Zeit.

Ich gehöre zu den Kreativen, die Ideen und Songs ab und zu mal liegen lassen müssen. Jedesmal, wenn ich an einer Produktion arbeite und aufgrund anderer Arbeiten erst eine Woche später weiterarbeiten kann, merke ich, wie gut mir das tut. Mein Tunnelgehör ist verschwunden und ich kann so viel intuitiver, wie auch schneller entscheiden. Auch fühle ich mich dann oft frisch inspiriert!

“Writing”-SessionS

Wer eine Weile im Musikbusiness unterwegs ist, hat von ihr nicht nur gehört, sondern sie auch schon erlebt oder (mit-)organisiert. Die Writing-Session.
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten so eine Session umzusetzen. Ich kenne Songcamps (Mehrtägige Events für Musiker:innen mit vielen Writing-Sessions), wo du in einer Gruppe von 2-5 Personen einen ganzen Tag Zeit hast, um einen Song zu schreiben. Aber auch solche, die nach der Nova Scotia Methode fahren: 3 People + 3 hours = 1 Song. Man sperre drei Musiker:innen mit sich (am besten) ergänzenden Expertisen in einen Raum und stellt den Wecker auf in drei Stunden. Hit-Faktor (laut internen Quellen): 1 outta 10
Jegliche Varianten einer Writing-Session haben im Ursprung eines gemeinsam: Es geht darum, einen Song zu schreiben. Auf Gitarre, Klavier oder/und sonstigen Begleitinstrumenten. A capella natürlich auch möglich ;) Es werden Melodien und Akkorde gesucht, Texte geschrieben, Poesie und Lyric gefunden und alles miteinander verbunden und in eine Form gebracht.

Warum ich das so ausführlich beschreibe hat den Hintergrund, dass viele solcher “Writing”-Sessions mehr und mehr fordern. Die Ansprüche steigen nicht nur auf Label- und Verlagsseite, sondern auch bei den Kreativen selbst. Der Song wird in 3 bis 14 Stunden nicht nur geschrieben/skizziert, er wird zudem arrangiert, aufgenommen (recorded), produziert und abgemischt. Wenn du ihn in der gegebenen Zeit nicht fertig stellst, sollte er aber in den nächsten 7 Tagen spätestens release-fertig sein. An alle Kreativen, die das konstant leisten können, mein größten Respekt!
Versteht mich bitte nicht falsch, ich mag solche Ein-Tages-Sessions, mit all den neuen Erfahrungen, der Schnelligkeit und Anforderungen! Viele von euch arbeiten so (me included) und wissen, dass es ihnen und ihrer Kreativität gut tut, mal auf Tempo zu arbeiten. Geht mir auch so. Aber eben nicht immer und vorallem nicht mit jedem Projekt/Song und dem Druck dahinter, dass wir in der gegebenen Zeit “liefern” müssen. Das ist kein Standard in der „Hit“-Produktion und muss es auch nicht sein, wenn du es nicht möchtest.

Musik machen ist Kunst. Und Kunst ist eigenwillig.
Sie voranging als Produkt zu behandelt und ihr und ihren Eigenarten wenig bis keinen Raum zu geben sehe ich sehr kritisch.

Production Take away´S

In den letzten Wochen habe ich mich zu oft bei dem Gedanken erwischt, dass ich viel zu langsam sei. Mein Gehirn macht daraus “Du bist schlecht.” Das stimmt natürlich nicht. Deswegen nagt es trotzdem immer mal wieder an meinem Selbstbewusstsein ♥️🦫

Den Spruch “Dinge brauchen ihre Zeit” habe ich vor einiger Zeit mal in einer Session gesagt. Als ich eine Weihnachtskarte der entsprechenden Künstlerin erhielt, wo sie beschrieb, wie sehr meine Worte noch in ihr widerhallen würden und sie nachträglich ermutigt hat, mehr auf ihr Bauchgefühl zu hören - ging mir das Herz auf. Und ich merke aktuell immer mehr, dass ich mir diesen Satz auch wieder öfter sagen darf! Also hab ich den Spruch einfach mal als Sticker gestaltet. Bleibt so vielleicht besser hängen! *räusper*

Was bei dieser gesamten Thematik leider verstärkt mit reinspielt, ist die immer noch fehlende Transparenz in unserer Branche. Mehr darüber zu reden, wie du, deine Kolleg:innen und Idole gerne Musik erschaffen, könnte uns unseren Tunnelblick und -gehör nehmen und zu neuen oder anderen Herangehensweisen inspirieren und ermutigen. Ich bin immer neugierig zu erfahren, wie eure Ideen und Songs entstehen. Denn auch ich bin ständig am ausprobieren und lernen.

Lasst uns öfter daran erinnern, wie wertvoll Zeit, Ausdauer und Geduld sein können. Nicht immer stehen sie uns zur Verfügung. Nicht immer können wir sie uns in dem Maße leisten, wie wir sie gerade bräuchten. Aber wir können uns dem Potenzial immer bewusst sein und entsprechend handeln. Und seien es zunächst 5 Minuten. Hast du 5 Minuten Zeit einmal tief durchzuatmen, ein Schluck Wasser trinken und für die restlichen 4 Minuten den Wolken oder Vögeln hinterher zu schauen? Na, schon was anders? ;)

p.s.:
Liebe Major- und Big Indie-Häuser,

ihr habt die Macht, das Geld und die Ressourcen, euren Artists und Projekten das zu geben, was sie brauchen, um wundervolle Kunst zu erschaffen! Sei es Wissen, Kontakte, Bühnen oder: Zeit. Gerade im Newcomer-Bereich sollten wir unsere Köpfe zusammenstecken und gemeinsam überlegen, was uns Menschen an Kunst so fasziniert und was wir brauchen, um sie und all diese Talente nachhaltig und individuell zu unterstützen! Die Welt möchte Einzigartigkeit, Authentizität, Diversität, Gegensätze und ein bisschen Verrücktheit! Die Welt braucht Menschen, keine Maschinen.
Wenn du das liest, ähnlicher Meinung und Teil eines Mayor-Teams bist ->
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